Als Jugendliche wünschte ich mir, Archäologin zu werden und alte Inschriften zu entziffern. Viele Jahre und viele Reisen und Museumsbesuche weiter weiß ich, wie schwierig es ist, Buchstaben, Zeichen und Wörter auf verwitterten Steinziffern eine Bedeutung zuzuweisen. So viele Fortschritte Forscher*innen auch gemacht haben: Viele Lücken bleiben und erschweren das Verständnis vergangener Zeiten. Fragmente sind manchmal alles, was von vergangenen Epochen und ihren menschlichen Schicksalen zeugt.
Was wäre nun, wenn wir eine Brücke in diese ferne Vergangenheit schlagen könnten? Was, wenn modernste Technologie uns helfen könnte, in stummen Zeugnissen zu lesen und die verlorenen Geschichten wieder zum Leben zu erwecken?
Genau das passiert gerade an der Schnittstelle von Archäologie und künstlicher Intelligenz. Aeneas, ein neues KI-Modell von Google DeepMind, lässt das Gedankenspiel zur Realität werden.
Aeneas entschlüsselt Texte
Wie steht es mit Ihrem Wissen um die alten griechischen Sagen? Ich musste auch erst nachlesen, wer genau Aeneas war: ein trojanischer Prinz, der mit anderen Trojanern aus der brennenden Stadt entkam, nach Westen entkam und römischer Überlieferung nach zu den Vorfahren von Romulus und Remus gehörte, den mythologischen Gründern der Stadt Rom. Jetzt beginnt ein neues Kapitel für den Sagenhelden.
Das Projekt Aeneas von Google DeepMind ist ein Beispiel dafür, wie moderne Technologie der Geschichtswissenschaft neue Werkzeuge in die Hand gibt. Entwickelt in enger Zusammenarbeit mit Historikern, soll diese KI antike griechische Inschriften entschlüsseln und damit unser Verständnis der Antike erweitern.
Dieses KI-Modell verfügt über zwei zentrale Fähigkeiten:
Texte wiederherstellen: Aeneas kann mit beeindruckender Genauigkeit fehlende Buchstaben oder ganze Wörter in beschädigten Inschriften rekonstruieren. Dabei greift das Modell auf sein umfangreiches Training mit antiken lateinischen und griechischen Texten zurück und erkennt schnell Muster, die Forschenden möglicherweise entgehen.
Zeitliche Einordnung: Die KI kann den Entstehungszeitpunkt einer Inschrift bestimmen – und das oft präziser als herkömmliche Datierungsmethoden. Diese Fähigkeit ist besonders wertvoll, wenn andere Anhaltspunkte zur Datierung fehlen oder widersprüchlich sind.
Mensch und Maschine im Tandem
Bei aller Begeisterung über die technologischen Möglichkeiten ist auch im geschichtlichen Kontext eines entscheidend: Aeneas ersetzt die menschliche Expertise nicht. Aeneas ist ein leistungsstarkes Werkzeug, das die Arbeit von Historikerinnen und Archäologinnen unterstützt und beschleunigt und damit geeignet ist als ein Beispiel für eine gelingende Kollaboration von Mensch und Maschine.
Die KI übernimmt die Detailarbeit der ersten Analyse und Rekonstruktion, die für menschliche Akteure sehr zeitintensiv ist. Das gibt den Forschenden mehr Raum für das, was Maschinen (noch) nicht leisten können: inhaltliche Interpretation, historische Einordnung und tieferes Verständnis der kulturellen Zusammenhänge.
Warum die Verbindung von Alt und Neu wichtig ist
Jede wiederhergestellte Inschrift ist mehr als eine akademische Übung. Sie öffnet uns Fenster in die Vergangenheit und ermöglicht uns neue Einblicke in die Antike. Wenn Aeneas einen fehlenden Text rekonstruiert, öffnet sich ein Zugang zu vergessenen Welten: Wir können erfahren, wie antike Gesellschaften ihre Gesetze formulierten, welche Handelsbeziehungen sie pflegten, welche Götter sie verehrten und wie der Alltag einfacher Menschen aussah. Die Fragmente erzählen Geschichten von Hoffnungen, Konflikten und Errungenschaften, die sonst für immer verloren wären.
Die wahre Kraft liegt in der Gesamtheit der Inschriften. Die Tausende von Texten, mit denen Aeneas trainiert wurde, bilden einen gewaltigen historischen Datensatz, eine Art kollektives Gedächtnis der Antike. Einzelne Inschriften mögen nur Bruchstücke sein, doch in ihrer Masse offenbaren sie mithilfe der künstlichen Intelligenz Muster und Zusammenhänge, die dem menschlichen Auge verborgen bleiben würden. Sprachliche Entwicklungen, Handelsrouten, gesellschaftliche Umbrüche – all das wird sichtbar, wenn KI die Datenberge durchforstet und Verbindungen herstellt.
Warum brauchen wir das Verständnis der Vergangenheit für uns im Hier und Jetzt? Die Vergangenheit ist ein Spiegel, in dem wir unsere Gegenwart betrachten können. Wenn wir verstehen, wie frühere Gesellschaften organisiert waren, wie sie funktionierten und woran sie scheiterten, gewinnen wir neue Perspektiven auf unsere eigenen Herausforderungen. Alte Texte zeigen uns mit erstaunlicher Klarheit, dass viele unserer heutigen Debatten über Demokratie und Bürgerrechte, über Migration und Integration, über Krieg und Frieden eine lange Geschichte haben. Schon die alten Griechen diskutierten über Themen, die Parlamente und Medien heute beschäftigen.
Lehren für die Zukunft?
Die historischen Daten könnten uns wiederkehrende Muster menschlichen Verhaltens aufzeigen, die über Jahrtausende erstaunlich konstant bleiben. Wir könnten erkennen, wie Gesellschaften auf Krisen reagieren: mit Innovation oder Rückzug, mit Solidarität oder Spaltung. Wir könnten sehen, unter welchen Bedingungen Menschen zusammenarbeiten und wann sie in Konflikt geraten. Diese Muster wiederholen sich nicht zwangsläufig, aber sie können uns wertvolle Orientierung geben. Oder wie Mark Twain es ausgedrückt haben soll: Geschichte wiederholt sich vielleicht nicht exakt, aber sie reimt sich.
Darüber hinaus kann das Wissen um eine gemeinsame, tiefe Vergangenheit Kulturen verbinden. Wenn wir erkennen, dass wir alle auf den Schultern früherer Generationen stehen und vor ähnlichen Herausforderungen stehen, fördert das im besten Fall Empathie und ein Gefühl globaler Gemeinschaft. Die antiken Griechen und Römer sind nicht „die anderen" – sie sind Teil unserer gemeinsamen menschlichen Geschichte, deren Herausforderungen uns weiterhin prägen.
Vielleicht ist die wichtigste Lektion aus diesem Projekt die Bedeutung von Wissenserhalt und Zusammenarbeit. So wie Aeneas Wissen vor dem Vergessen bewahrt, müssen wir heute daran arbeiten, unser kollektives Gedächtnis zu sichern und über Disziplinen und Kulturen hinweg zusammenzuarbeiten – genau wie die KI-Forschung und Historiker*innen in diesem Projekt es vormachen.